Schlaflos in Patagonien: Laura Tiefenthaler gelingt die sechste Begehung auf den Cerro Chaltén
Das große Ziel: Die Ostwand des Cerro Chaltén
Als das neue Jahr näher rückte, erschien in der Vorhersage ein schlecht definiertesWetterfenster, das sich jedoch mit jeder Aktualisierung änderte. Einer von uns hatte die Idee, die Ostwand des Cerro Chaltén zu versuchen, und wir waren beide begeistert. Das Gute an diesem Ziel ist, dass man relativ einfach zu jeder Zeit abseilen kann. Also haben wir beschlossen es zu probieren, ohne allzu große Erwartungen zum Gipfel zu gelangen. Unser Plan war, nur eine minimalistische Ausrüstung (Kocher, einen Schlafsack, ein paar Riegel, eine Packung Kekse, Zustiegsschuhe, zwei leichte Pickel und Aluminiumsteigeisen) mitzunehmen und so lange weiterzuklettern, bis das Wetter es nicht mehr erlauben sollte oder wir schlicht nicht mehr konnten oder wollten.
Details zur Route El Corazón: 1250 Meter Wandhöhe, 45˚ Eis, Bewertung 6c A2+ M (frei 7b mit Variationen), erstbegangen von Kaspar Ochsner (Schweiz) und Michal Pitelka (Tschechien) 1992, bisher fünf Begehungen.
Laura Tiefenthaler gegen die Cerro Chaltén Ostwand
Nachdem wir am Vortag zum Paso Superior zugestiegen waren, starteten wir von dort am nächsten Morgen um 6 Uhr. Anfangs fühlte ich mich ein wenig unsicher, da ich im Vergleich zu den meisten meiner US-amerikanischen Kletterfreunde weniger Riss-Erfahrung habe und „El Corazón“ eine Route im Yosemite-Stil ist. Aber die Dinge begannen zu fließen, und ich war froh und auch ein bisschen stolz, als wir um 20 Uhr die ersten 12 Seillängen geschafft hatten. Hier tauschten wir die Führung. Die Bedingungen waren gut. Die Risse im unteren Teil waren teilweise nass, aber nie vereist. Das „Aquarian Roof“ machte seinem Namen alle Ehre und nach der kalten Dusche, die ich während des technischen Hochkletterns erleben durfte, zitterte ich an diesem Abend an jedem Stand. Zum Glück war ich fast wieder trocken, als wir kurz nach Mitternacht nach Seillänge 16 das „Biwak“ erreichten. Der im Topo eingezeichnete Biwakplatz war ein Witz, denn er war viel kleiner als wir erwartet hatten, aber wir fanden auf einem Block zumindest Platz zum Sitzen.Die Herausforderungen Patagoniens
Um 2 Uhr morgens, nachdem wir etwas Schnee geschmolzen, ein paar Kekse gegessen und das Seil, das sich in der Länge darunter verklemmt hatte, befreit hatten, versuchten wir mit einem Schlafsack für uns beide, auf unseren Seilen sitzend, einzuschlafen. Eine Nacht, nach der man denkt, man habe keine 10 Minuten geschlafen, folgte. Um 7 Uhr morgens setzte Thomas unseren Weg fort und kletterte größtenteils technisch einen markanten, unglaublich schönen Riss hinauf, der eine steile goldene Felswand spaltet. Ich jummarte mit dem Rucksack hinter ihm her, beeindruckt von der imposanten Wand. Zum Glück hatten wir ein halbautomatisches Sicherungsgerät, denn bei jedem Stand war ich kurz davor einzuschlafen.Um 21:45 Uhr, am Ende von Seillänge 32, schmolzen wir etwas Wasser und ruhten uns ein wenig aus. Als wir die Schulter erreichten, an der das Mixedgelände begann, waren wir exponiert und bekamen starke Windböen ab. Zudem waren wir nun plötzlich in eine Wolke gehüllt, die uns in Eispilze verwandelte. Und bei einer Sichtweite von 15 Metern wurde die Routenfindung immer schwieriger. Trotzdem lief es erstaunlicherweise perfekt genug, um am Montagmorgen um 3 Uhr morgens den Gipfel zu erreichen. Wir waren uns beide bewusst, dass der Gipfel erst die halbe Miete war, und machten uns sofort an den Abstieg. Beide hatten wir Angst vor den berüchtigten, sich rasant verschlechternden patagonischen Wetterbedingungen. Aber es gelang uns trotzdem einen halbwegs ruhigen Gemütszustand zu bewahren. Wir versuchten, konzentriert zu bleiben, aber der Schlafmangel machte sich immer stärker bemerkbar, bremste uns aus und wirkte sich auch auf unsere kognitive Leistung aus – manchmal kamen wir uns schon richtig „matschbirnig“ vor. Nachdem unser Seil zum dritten Mal an einer überhängenden, 60 Meter langen Abseilstelle nicht abzuziehen war, mussten wir eines unserer Seile in der Mitte durchtrennen.
Böse Überraschung nach dem Cerro Chaltén
Gegen 14 Uhr kamen wir dann an der „La Brecha“ an, an der wir uns noch einige hunderte Meter zum Gletscher hinunterseilen mussten. Heil am Gletscher angekommen, setzten wir unseren Weg zum Paso Superior fort, den wir um 19 Uhr erreichten. Wir hatten uns schon auf unser Essen und ein kleines Nickerchen in unserem Zelt gefreut. Aber was? NEIN! Unser Zelt hatte fliegen gelernt und war - obwohl wir es abgebaut und an allen Ecken mit Steinen beschwert hatten - vom Winde verweht. Einfach weggefegt! Ohne Essen oder Schlaf gingen wir bei tosendem Sturm und waagrecht ins Gesicht peitschenden Regen weiter zurück nach El Chaltén und kamen um 2:30 Uhr morgens dort an – halbtot, wie den Erzählungen zufolge schauten wir aus wie nach einer Nonstop-Technoclub-Partywoche in Berlin.Zweifellos ist El Corazón die größte Felsklettertour, die ich im Chalten-Massiv gemacht habe, und dass, obwohl die Wetterprognose nicht sehr vielversprechend war. Noch nie hatte ich mich so müde gefühlt. Thomas war ein hervorragender Kletterpartner! Was für ein Privileg, so ein Abenteuer gemeinsam erlebt haben zu dürfen.
Fotos: Laura Tiefenthaler, Thomas Bukowski